GILC

Offener Brief an den Europarat in Strassburg 

18. Oktober 2000 

Die unterzeichneten Mitglieder* der »Global Internet Liberty Campaign« (einer Koalition von weltweit mehr als 50 Bürgerrechtsgruppen) unterstützen die folgende Petition:

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S.g. Herr Generalsekretär Walter Schwimmer, 
S.g. Expertenkomitee für 'Cyber-Crime' im Europarat, 

Wir schreiben Ihnen im Namen einer großen Zahl von privaten Organisationen in Nordamerika und Europa, um unseren Einspruch gegen die vorgeschlagene Convention of Cybercrime kundzutun. Wir glauben, dass der Vertragsentwurf in krassem Gegensatz zu den etablierten Normen zum Schutz des Individuums steht, dass er die polizeilichen Rechte nationaler Regierungen unangemessen ausweitet, dass er die Entwicklung von Netzwerksicherheitslösungen behindert oder unmöglich macht, und dass er der exekutiven Gewalt Machtbefugnisse einräumt, die diese in einem Rechtsstaat nicht besitzen sollte. 

Wir wehren uns insbesondere gegen die Auflagen, die ISPs verpflichten, alle Aktivitäten ihrer Kunden aufzuzeichnen. (Artikel 17, 18, 24, 25). Diese Auflagen stellen ein erhebliches Risiko für das Recht auf Privatsphäre sowie die Menschenrechte der Internetnutzer dar und entsprechen nicht den etablierten Prinzipien des Datenschutzes, wie beispielsweise der Datenschutzrichtlinie der EU. Derartige Aufzeichnungen von Kommunikationsvorgängen wurden in der Vergangenheit verwendet, um Dissidenten zu identifizieren und Minderheiten zu verfolgen. Wir bitten Sie dringend, die genannten Auflagen in einem modernen Kommunikationsnetzwerk nicht vorzuschreiben. Unserer Meinung nach ist der gesamte Artikel 18 mit dem Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtscharta und mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte unverträglich. 

Weiterhin sprechen wir uns entschieden gegen die Konzeption von "illegalen technischen Hilfsmitteln", wie sie in Artikel 6 entworfen wird, aus. Wir glauben, dass das vorgelegte Konzept ausreichend genaue Definitionen vermissen lässt und dadurch zu einer universell einsetzbaren Klausel wird, die sich gegen jede Art von computerbasierter Aktivität einzelner Individuen verwenden lässt, selbst wenn diese völlig gesetzeskonform handeln. Wie technische Experten klargestellt haben, wird der vorliegende Entwurf außerdem die Entwicklung neuer Sicherheitswerkzeuge entscheidend behindern und den Regierungen eine übermächtige Rolle in der wissenschaftlichen Forschung einräumen. 

Auch sind wir mit der dramatischen Ausweitung von Urheberrechtsdelikten im vorgeschlagenen Artikel 10 in keiner Weise einverstanden. Es kann aufgrund der aktuellen Entwicklungen wohl weder davon ausgegangen werden, dass Strafandrohungen das geeignetste Mittel der Wahl zur Bekämpfung von Urheberrechts-Verstößen darstellen, noch dass die angesprochenen, zugrundeliegenden Verträge von solchen Notwendigkeiten ausgehen. Neue Strafen für kriminelle Delikte sollten auf einem Gebiet, wo die nationale Gesetzgebung derart in der Schwebe ist, nicht auf internationaler Ebene beschlossen werden. Grundlegend bleibt zu sagen, dass wir Initiativen, die länderübergreifende Assistenz in der Strafverfolgung zum Ziel haben, ablehnend gegenüberstehen, wenn überhaupt keine länderübergreifenden Delikte zu verfolgen sind. Dies ist ein zentraler Grundsatz der nationalen Souveränität. 

Weiterhin glauben wir, dass für internationale Ermittlungen klare Richtlinien beschlossen werden müssen, und dass keine exekutive Instanz im Namen eines anderen Staates und nach dessen Rechtsprechung handeln sollte, ohne klare Ermittlungsauflagen innerhalb der eigenen Rechtsprechung. Verschiedene Länder haben zugegebenermaßen verschiedene Ermittlungsauflagen, aber dies ist nun die Möglichkeit zur Harmonisierung, sofern wir gleichzeitig die Wahrung der Menschenrechte auf hohem Niveau sicherstellen. 

Die strafrechtlichen Vorkehrungen der Artikel 9 und 11 könnten einen abschreckenden Effekt auf den freien Austausch von Informationen und Ideen ausüben. Die erzwungene Übernahme von Verantwortung für die Inhalte Dritter durch Internetprovider stellt eine unzumutbare Belastung für die Anbieter neuer Netzwerkdienste dar, und wird die unangemessene Überwachung privater Kommunikation fördern. 

Dem Artikel 14, der die Voraussetzungen für die Suche nach gespeicherten Computerdaten und deren Beschlagnahmung umreisst, fehlen die notwendigen prozeduralen Sicherheitsmechanismen, um die Rechte des Individuums zu schützen, und um insbesondere sicherzustellen, dass ein unabhängiger Richter hinzugezogen werden muss, um so die Berücksichtigung der grundlegenden Freiheiten und Rechte sicherzustellen, bevor eine staatliche Durchsuchung vorg enommen wird. Solche Durchsuchungen würden eine "beliebige Einmischung" unter internationalen Rechtsnormen gestatten. 

Die Artikel 14 und 15 könnten zu einem verpflichtenden Zugang der Regierung zu Encryption-Keys führen, der Bürger dazu zwingt, sich selbst zu belasten, was mit dem Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte unvereinbar ist. Wir stellen auch die Zweideutigkeit in Frage, die sich aus diesem Artikel in Bezug auf den Zugang von Regierungen zu Verschlüsselungen ergibt. Der Europäische Rat sollte diese Auflage so klarstellen, dass die Mitgliedsstaaten diese Konvention nicht als Vorwand missbrauchen können, die Rechtssprechung in bezug auf Selbst-Inkriminierung zu umgehen. 

Wir sind auch strikt gegen die Art und Weise, wie dieser Vorschlag entstanden ist. Polizeiorganisationen und einflussreiche private Interessenten, die ausserhalb des demokratischen Rahmens agieren, haben versucht, in einem abgeschirmten Prozess Regeln zu definieren, die zu bindender Rechtsprechung werden. Wir glauben, dass diese Vorgehensweise die Erfordernis der Transparenz verletzt, und dass sie mit den demokratischen Prinzipien der Entscheidungsfindung nicht in Einklang steht. 

Privacy-Experten haben ihren Widerstand gegen diesen Vorschlag erklärt. Ein Experte warnte davor, dass die Versuche, eine internationale Konvention zum "Cyber Crime" zu entwickeln, zu "fundamentalen Einschränkungen von Privatsphäre, Anonymität und Verschlüsselung" führen würden. 

Offizielle Datenschutzbeauftragte haben ihren Widerstand gegen diesen Vorschlag erklärt. Die Internationale Arbeitsgruppe für Datenschutz im Telekommunikationsbereich kritisierte vor einiger Zeit die Versuche, alle Datentransfers verpflichtend aufzuzeichnen, und empfahl eine Verbesserung der Sicherheit statt neuer Strafgesetze. 

Technische Experten haben ihren Widerstand gegen diesen Vorschlag erklärt. Ein gemeinsamer Brief von führenden Sicherheitsexperten, Lehrkräften und Großverkäufern stellt fest, dass "der vorgeschlagene Vertrag unbeabsichti gt zur Kriminalisierung von Techniken und Software führen könnte, die üblicherweise zum Schutz von Computersystemen vor Angriffen benutzt werden", und dass der vorgeschlagene Vertrag "negative Auswirkungen auf Sicherheitsexperten, Forscher und Lehrkräfte hätte." 

Nun erklärt ein großer Kreis von Organisationen, die weltweit die Rechte der Bürger vertreten, ihren Widerstand gegen diesen Vorschlag. Wir glauben, dass jeder Vorschlag, neue Befugnisse in der Ermittlung und Strafverfolg ung zu schaffen, eine sorgfältige Berücksichtigung der Artikel 8 und 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und der verwandeten Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte beinhalten sollte. 

Wir glauben nicht, dass diese Instrumente bei der Ausarbeitung des vorliegenden Entwurfs entsprechende Beachtung fanden. Außerdem glauben wir, dass die Richtlinien der OECD zur Kryptographie-Politik und die Richtlinien der OECD für die Sicherheit von Informationssystemen in bezug auf die Notwendigkeit, starke Sicherheitstechniken zur Reduzierung des Risikos von Computer-Kriminalität zu forcieren, eine zukunftsorientierte und ausgewogenere Sichtweise einnehmen, als der nun zur Begutachtung vorliegende Entwurf. 

Abschließend stellen wir fest, dass auch die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte direkt die Verpflichtungen jeder Regierung zum Schutz der Privatheit der Kommunikation und zur Gewährleistung der Meinungs- und Redefreiheit in neuen Medien nennt. Artikel 12 besagt, dass "niemand einer willkürlichen Einmischung in seine Privatsphäre, seine Familie, sein Heim oder seine Korrespondenz unterworfen werden soll. Jeder besitzt das Recht der Meinungs- und Redefreiheit ohne jede Einmischung; dies schließt das Recht ein, Informationen und Ideen über jegliche Medien, unabhängig von Grenzen, zu suchen, zu empfangen und weiterzugeben." 

Wir bitten Sie dringend, den vorliegenden Entwurf in dieser Form nicht zu billigen. Wir, die Unterzeichner, sind bereit, die europäische Kommission mit Experten auf diesem Gebiet zu unterstützen, um eine bessere Version des Dokuments bereitzustellen, die nicht nur auf die Bestrafung, sondern auch auf die Prävention von Computerverbrechen abzielt. 

Gezeichnet,


Referenzdokumente 

  1. COE Convention on Cyber-Crime (draft)
    http://conventions.coe.int/treaty/EN/projets/cybercrime.doc
  2. COE Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms
    http://www.coe.fr/eng/legaltxt/5e.htm
  3. COE Conventions - Background
    http://conventions.coe.int/treaty/EN/cadreintro.htm
  4. IAB/IESG Statement on Wassenaar Arrangement
    http://www.iab.org/iab/121898.txt
  5. IETF Policy on Wiretapping (RFC 2804)
    ftp://ftp.isi.edu/in-notes/rfc2804.txt
  6. OECD Cryptography Policy Guidelines (1997)
    http://www.oecd.org//dsti/sti/it/secur/prod/e-crypto.htm
  7. OECD Guidelines for the Security of Information Systems (1992)
    http://www.oecd.org//dsti/sti/it/secur/prod/e_secur.htm
  8. Security Focus Commentary on COE Convention
    http://www.securityfocus.com/news/39
  9. Statement of Concern from Technology Professionals on Proposed COE Convention on Cyber-Crime
    http://www.cerias.purdue.edu/homes/spaf/coe/TREATY_LETTER.html
  10. Universal Declaration of Human Rights
    http://www.un.org/Overview/rights.html

 

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