Strafanzeigen taugen nicht zur Rettung veralteter Geschäftsmodelle |
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European Digital Rights verurteilt Vorgehen der Phono-Industrie gegen Tauschbörsen-Nutzer
Die deutsche Sektion des Tonträger-Industrieverbandes IFPI hat angekündigt, Strafanzeige gegen 68 Nutzer angeblich illegaler Tauschbörsen zu stellen. Gleichzeitig haben die IFPI-Sektionen in Italien, Dänemark und Kanada ebenfalls strafrechtliche Schritte nach US-Muster gegen Teilnehmer von P2P-Netzen eingeleitet; angekündigt wurden solche Maßnahmen unter anderem in Frankreich und in der Schweiz. Dazu erklärt Andreas Dietl, EU-Direktor des europaweiten Verbandes European Digital Rights (EDRi), der sich für Bürgerrechte im Internet engagiert:
"Die Hersteller von Tonträgern haben offenbar die Lektion aus den USA nicht gelernt und verfolgen nun auch in Europa ihre Kunden als Kriminelle. Sie vertiefen damit die Vertrauenskrise zwischen Musikkonsumenten und Tonträgerindustrie und tragen dazu bei, dass immer mehr Konsumenten nach Wegen suchen, Musik zu genießen, ohne die sie verfolgende Industrie zu unterstützen. Die explizit als Einschüchterungsversuch konzipierten Strafanzeigen werden ihren Zweck nicht erreichen, ein veraltetes Geschäftsmodell in das Zeitalter des Internet hinüberzuretten."
Zwar hat die Musikindustrie mit von ihr selbst betriebenen Download-Services einen verspäteten Versuch unternommen, das Internet als Geschäftsraum zu nutzen. Diese Dienste erfüllen jedoch die Erwartungen der Konsumenten aus verschiedenen Gründen nicht:
- Die Auswahl ist nicht ausreichend. Die Musikindustrie gibt an, in Europa stünden 300.000 Titel auf 50 verschiedenen Sites zur Verfügung. Wer jedoch einen bestimmten Titel sucht, der braucht oft lange Zeit, bis er fündig wird, da die Mehrzahl dieser Sites nur einen Bruchteil des Gesamtangebots zum Download bereit hält. Darüber hinaus stellen auch die legal angebotenen angeblich 300.000 Titel nur einen Bruchteil des Millionen-Angebots dar, das Musiktauschbörsen bieten. Liebhaber unkonventioneller Musikrichtungen kommen bei den Download-Services nicht auf ihre Kosten, wohl aber bei den Tauschbörsen.
- Die angebotenen Titel sind zu teuer. Bei Preisen um 1 Euro pro heruntergeladenem Titel kostet der Download des Inhalts einer CD in etwa soviel wie der Kauf der CD im Laden. Wenn der Titel anschließend auf CD gebrannt werden soll, kommt dazu der Preis einer Roh-CD, der bereits eine Copyright-Abgabe enthält, die ebenfalls an die Musikindustrie geht. Schon bei Kauf-CDs schrecken die überhöhten Preise zahlreiche Käufer ab; sie sind mit ursächlich für die schlechten Geschäftsergebnisse der Tonträgerbranche.
- Die Qualität des Angebots ist zu schlecht. Viele der Download-Services reflektieren die Strategie der Musikindustrie, gerade auf Tonträgern, die sich an ein jugendliches Publikum richten, nur noch eine aufwändige Hit-Produktion mit zahlreichen Ex-und-Hopp-Produkten zu bündeln. Diese Geschäftsstrategie ist mit ursächlich für den Umsatzeinbruch gerade bei diesem Zielpublikum. Sie hat dazu geführt, dass Musikkonsumenten heute wissen - sprich: vorher hören - wollen, was sie kaufen. Viele Download-Dienste bieten diesen Service nicht an.
- Die Titel werden in inkompatiblen Formaten geliefert. Bis auf wenige Ausnahmen bieten die industriellen Download-Dienste Musikstücke in den Formaten Windows Media Player und Real Media, selten QuickTime, an. Diese Stücke sind mit so genanntem Digital Rights Management (DRM) versehen und unterliegen zahlreichen Beschränkungen. So ist es häufig nicht möglich, sie auf CD zu brennen, sie auf den immer beliebteren MP3-Spielern abzuspielen oder sie in ein anderes Format umzuwandeln, um sie mit einem anderen als dem vom Hersteller vorgesehenen Programm zu nutzen. Übrigens steht der derzeit am weitesten verbreitete Windows Media Player nur für das Betriebssystem eines einzigen Herstellers zur Verfügung. Wer etwa einen Linux-Rechner oder einen Apple-Computer benützt, kann diese Dateien nicht abspielen.
Die Tonträger-Industrie bleibt aufgefordert, Angebote zu entwickeln, die für Nutzer des Internet attraktiv sind. Erst dann wird es ihr gelingen, mit dem Problem fertig zu werden, das sie mit der P2P-Technologie zu haben scheint. Bleibt sie jedoch bei ihrer bisherigen Vorgehensweise, unattraktive Angebote mit strafrechtlichen Drohungen zu flankieren, so wird das Ergebnis nur eine weitere Entfremdung vor allem junger Nutzer und eine verfestigte Legitimierung der Tauschbörsen sein.
Einige aktuelle Links zum Thema:
Tauschbörsen haben keinen Einfluss auf CD-Verkäufe
http://www.telepolis.de/deutsch/special/copy/17076/1.html
Australische Musikindustrie verbucht Verkaufsrekord
http://www.heise.de/newsticker/meldung/46083
Phonoline: Musikdownload-Plattform bietet nur eingeschränkten Hörgenuss
http://www.ftd.de/tm/it/1079712469015.html?nv=rs
$100 million films - A record number of films crashed the venerable boxoffice mark in 2003
http://www.hollywoodreporter.com/thr/film/feature_display.jsp?vnu_content_id=1000466748
Musikindustrie will Lohn der Musikautoren und Komponisten nahezu halbieren
http://www.de.internet.com/index.html?id=2025989
CCC fordert zum Boykott der Musikindustrie auf
https://www.ccc.de/campaigns/boycott-musicindustry
Rückfragen:
Andreas Dietl
EU Affairs Director
European Digital Rights
T: +32 2 660 47 81
M: +32 498 34 56 86
andreas@edri.org
www.edri.org
http://www.vibe.at/aktionen/200403/EDRi_31mar2004.html
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zuletzt aktualisiert: Sunday, 26-Mar-2006 11:16:29 CEST